Früher oder später ist sicher: Der Wandel hin zu einer agilen Organisation macht neue Führungsmethoden erforderlich. Du hast festgestellt, dass die klassischen Führungsinstrumente im komplexen Umfeld ausgedient haben? Doch was gilt es bei agiler Führung zu beachten? Welche zentrale Rolle spielst Du für wirksame Führung in Deiner Organisation im Wandel? Unsere Pionierin Soumia El Mard ist diesen Fragen nachgegangen. (Bildquelle: unsplash.com/Jehyun Sung)
- Selbstorganisierte Teams benötigen passende agile Führungsmethoden
- Verteilte, geteilte oder laterale Führung: Synonyme für eine agile Führungsmethode?
- Welcher ist nun der agile Engel unter den agilen Führungsmethoden?
- Entlastung durch verteilte Führungsaufgaben
- Verteilung gut – alles gut?
- Agile Führungsmethoden in der Praxis
- Warum Metareflexion in verteilten Führungsteams so wichtig ist
- Bereichsleitung mit großer Hebelwirkung bei agilen Führungskonzepten
- Ein starkes “Why” und konsequentes Vorleben
- Deine eigene Rolle klären und schärfen
Selbstorganisierte Teams benötigen passende agile Führungsmethoden
Vielleicht bist Du bereits erste agile Schritte gegangen. Und Du hast die Erfahrung gemacht, dass bei der Zusammenarbeit nach Scrum Hierarchien schnell zu Engpässen führen. In agilen Kontexten gelten neue Regeln. Agilität macht den:die Kund:in zur:m neuen Chef:in. Vor allem in Euren Teams liegt die wichtige Expertise, dessen:deren Bedürfnisse zu erfüllen. Arbeiten diese nach agilen Prinzipien wie Selbstorganisation, Crossfunktionalität & Co., braucht Ihr dazu ein passendes agiles Führungskonzept. So viel ist klar. Doch was solltet Ihr dabei beachten und welche zentrale Rolle spielst Du für wirksame Führung in Deiner Organisation in Wandel?
Verteilte, geteilte oder laterale Führung: Synonyme für eine agile Führungsmethode?
Du hast Dich bereits gefragt: Was genau steckt hinter den verschiedenen Führungskonzepten, mit denen im Kontext agiler Führung alle um sich werfen? Sind verteilte, geteilte und laterale Führung wirklich Synonyme für ein und dasselbe Konzept? Nun ja, im Detail steckt bekanntlich der Teufel – oder eher: der agile Engel. Zuallererst: Eine allgemeingültige Unterscheidung zwischen den Ansätzen gibt es nicht. Wir orientieren uns an Pearce & Conger (2003) und verstehen die genannten Konzepte so:
- Verteilte Führung: Verteilte Führung wird gerne verwechselt mit Führung von geografisch verteilten Teams. Verteilte Führung meint aber: Führungsverantwortung ist auf mehrere Personen beziehungsweise definierte Rollen verteilt: auf prozessuale, fachliche und disziplinarische Führungsformen.
- Geteilte Führung: Bei geteilter Führung hingegen ist das Führungsverständnis situativ bedingt und dynamisch. Mitglieder eines Teams sind „empowert“ und übernehmen aus situativem Anlass Verantwortung. Führung entsteht dann, wenn die anderen folgen. Hier besteht der Unterscheid zur statischen verteilten Führung mit feststehenden expliziten Rollen: Geteilte Führung ist dynamisch: Je nach Situation und Kompetenz einzelner Teammitglieder verändern sich die Rollen.
- Laterale Führung: Im Kontext agiler Führung hast Du vielleicht auch schon häufiger von lateraler Führung gehört. Im Gegensatz zu geteilter und verteilter Führung meint laterale Führung auch „Führung von der Seite“. Es geht nicht darum, Führung auf (mehrere) Personen zu verteilen. Bei diesem Führungskonzept wird disziplinarische Macht von der Führungsrolle abgespalten und stärker über fachliche und prozessuale Expertise geführt. Solche Führungsrollen findest Du häufig im Projektmanagement und in der Rolle der Projektleitung. Als laterale Führungskraft führst Du also über Expertise und Vertrauen und damit auf Augenhöhe. Augenhöhe ist übrigens ein verbindendes Element aller drei beschriebenen Ansätze.
Welcher ist nun der agile Engel unter den agilen Führungsmethoden?
Wie so oft: Es kommt darauf an! Zunächst einmal sind alle genannten Ansätze – insbesondere im Vergleich zur vertikalen Führung – für agile Unternehmen geeignet und verschmelzen an der ein oder anderen Stelle. Je nach Agilitätsbedarf ist die verteilte Führung aus mehreren Gründen sinnvoll. Zum einen braucht Ihr bei vielschichtigen und wissensintensiven Aufgaben verschiedene Kompetenzen und Expertisen. Durch verteilte Führung können Synergien der verschiedenen Stärken von Personen entstehen. Zum anderen geben definierte Rollen Orientierung, was vor allem in mittleren und größeren Unternehmen hilfreich ist. Viele Unternehmen verteilen Führung auf Scrum-Rollen und unterscheiden Selbstführung, prozessuale, menschliche, fachliche und selbstorganisierende Führungsrollen, wie die Abbildung zeigt.
Eine genaue Beschreibung zu Rollen und Kompetenzbeschreibungen findest Du im Blogartikel von André Häusling zum Thema „Was ist eigentlich agile Führung?“ Teil 1 und Teil 2.
Entlastung durch verteilte Führungsaufgaben
Schließlich ist Führung auch eine individuelle Angelegenheit. Durch die verschiedenen Rollen in der verteilten Führung hast Du eine gute Chance, Dich persönlich mit Deinen Interessen und Kompetenzen wiederzufinden – und auch einzubringen. Auch dem Jonglieren der vielen Anforderungen und Erwartungen an ein und dieselbe Person steht endlich Entlastung gegenüber. Jede Führungsrolle konzentriert sich auf die eigene Führungsaufgabe. So entsteht Raum für Fokus. Besonders plakativ beschreibt Keller (2021) in seinem Buch „Jedership“, wie Führung jede:n betrifft – ohne disziplinarische Verantwortung und unabhängig von Status, Titel oder Berufsbezug. Jeder von uns führt immer – privat wie beruflich – mindestens eine Person: Die eigene.
Verteilung gut – alles gut?
Verteilte Führung ist jedoch kein Allheilmittel. Diese agile Führungsmethode braucht vor allem gute Rahmenbedingungen und die konsequente Rückendeckung seitens der Geschäftsführung, um wertvolle Früchte ernten zu können. Werden Hierarchien abgebaut, befürchten Führungskräfte häufig, Macht und Status zu verlieren. Widerstand ist die Folge. Neu eingeführte Führungsrollen werfen mitunter auch Unklarheiten über Verantwortlichkeiten und Entscheidungsprozesse auf. Eine ebenso große Herausforderung ist es, die Prioritäten verschiedener Führungsrollen in Balance zu halten und an einem gemeinsamen Strang zu ziehen. Du fragst Dich, wie solche Herausforderungen zu überwinden sind? Wir haben ein paar typische Szenarien und Good Practices zusammengestellt, die Dir die Praxis von verteilter Führung veranschaulichen.
Agile Führungsmethoden in der Praxis
Praxisbeispiel 1
- Situation: Steffen war bisher Linien-Führungskraft und gibt nun die fachliche Führung an die Product Ownerin Lisa ab. Die disziplinarische Macht liegt weiterhin bei Steffen. In letzter Zeit beklagen sich Mitarbeiter:innen über Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit. Steffen fragt sich, woran das liegen könnte.
- Problem: Es findet keine Kollaboration im Führungsteam statt.
- Good Practice: Steffen und Lisa stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. In wöchentlichen Meetings stimmen sie ihre Ziele und Prioritäten miteinander ab und treten synchron gegenüber Mitarbeiter:innen auf. Ein partizipativ entwickeltes Zielbild hilft allen Führungsrollen wie auch dem Team bei der Orientierung. Bei Konflikten kann der Scrum Master Sven als Konfliktmediator wirksam werden.
Praxisbeispiel 2
- Situation: Simon leitet den Bereich IT. Er hat sich mit dem Team entschieden, nach Scrum zu arbeiten und Verantwortung zu verteilen. So können sie endlich adäquat und schnell auf die Anforderungen von Kund:innen reagieren. Bereichsleiterin HR Pia nimmt den IT-Bereich schon seit längerem als Schattenorganisation mit sämtlichen Workarounds wahr und ist verärgert, dass der HR-Bereich nicht eingebunden wird.
- Problem: Die in Pias Bereich entwickelten HR-Instrumente liefern für die gegebene Situation der verteilten Führung keinen Nutzen für den IT-Bereich von Simon. So dauert es etwa viel zu lang, bis die Stellen von IT-Fachkräften besetzt sind. Das kann langfristig zu Wettbewerbseinbußen führen.
- Good Practice: HR und IT tauschen ihre jeweiligen Wahrnehmungen und Bedürfnisse offen aus. Sie entwickeln gemeinsam neue HR-Instrumente, die für den Bedarf des IT Bereichs besser geeignet sind wie etwa Peer Recruiting. Ein People Coach aus Pias Bereich dient als weitere Führungsrolle und unterstützt in allen Fragen zum Thema „Menschenführung“.
Warum Metareflexion in verteilten Führungsteams so wichtig ist
In verteilten Führungsteams können sich die verschiedenen Führungsrollen auf ihre Aufgabe fokussieren. Man nennt dies auch Konzentration auf die Arbeit IM System. Gleichzeitig ist es jedoch mindestens genauso wichtig für Euch, immer wieder aus Eurer Blase herauszutreten und zu prüfen: Passt das, was Ihr tut, zu Eurer gesamten Organisation? Eure Teams müssen abschätzen können, welche Folgen eine einzelne Entscheidung oder Handlung für das gesamte System hat. Das strategische Gesamtgebilde und damit den Sinn und Zweck des Unternehmens im Blick zu haben, nennt man auch „Metareflexion“. Metareflexion ermöglicht die Arbeit AM System und gehört aktuell zu den wichtigsten, aber zugleich anspruchsvollsten Kompetenzen des 21. Jahrhunderts.
Bereichsleitung mit großer Hebelwirkung bei agilen Führungskonzepten
Der Weg hin zu einer funktionierenden verteilten Führungsorganisation kann Stolpersteine aufweisen. Dennoch hier eine gute Nachricht für Dich: Als Bereichsleitung etwa kannst Du grundsätzlich eine große Hebelwirkung erzielen, indem Du die richtigen Rahmenbedingungen für agile Führungsmethoden gestaltest. Bleiben wir bei der Metareflexion, der Arbeit AM System. Aus Deiner Rolle heraus kannst Du die selbstorganisierten Teams und alle weiteren Führungsrollen dabei unterstützen, stets das Ganze im Blick zu behalten. Damit befähigst Du Mitarbeiter:innen, unternehmerische Fähigkeiten aufzubauen und machst sie zu Intrapreneur:innen. Was Du konkret unternehmen kannst? Führe zum Beispiel „Metareflexionsrunden“ oder „Balkonsessions“ ein. Diese helfen, den Mitarbeiter:innen sichtbar zu machen, welchen konkreten Beitrag sie zum großen strategischen Ganzen leisten. Dies führt zu mehr Arbeitszufriedenheit, ist aber auch ganz zentral für eine erfolgreiche Unternehmenstransformation.
Ein starkes “Why” und konsequentes Vorleben
Eine gemeinsame Orientierung ist sehr entscheidend dafür, dass verteilte Führung funktioniert. Auch regelmäßige Meeting-Strukturen bieten Dir dazu eine gute Möglichkeit. Um verteilte Führung wirklich erfolgreich zu etablieren, brauchst Du vor allem zwei Dinge: Ein starkes Why und das konsequente Vorleben! Für das Why hilft es Euch zum Beispiel, ein gemeinsames Zielbild zu entwickeln. Als Kompass fördert es die Zusammenarbeit der Führungsrollen und das Ziehen an einem Strang. Das ist vor allem dann wichtig, wenn Eure Rolleninhaber:innen noch keine Klarheit über die Verantwortungsbereiche innerhalb ihrer Rollen, aber auch in Abgrenzung zu den anderen Führungsrollen, haben. Wichtig an dieser Stelle ist, dass ALLE an der Zielbildentwicklung mitwirken.
Wenn Du selbst als Promoter:in des Wandels agierst und das im Zielbild Festgehaltene vorlebst, kannst Du eine ganz entscheidende Dimension der agilen Transformation mitprägen: Die Unternehmenskultur. Konsequent gedacht bedeutet Vorleben auch, Teil des verteilten Führungssystems zu werden. Vielleicht gehört es auch dazu, den Aspekt der disziplinarischen Führung nochmal zu überdenken …
Deine eigene Rolle klären und schärfen
Bespreche dieses „Role Model Canvas“ mit Deinem Team und nutze es als Blaupause für die Besprechung aller Rollen in Eurem Team. Damit schafft Ihr Rollenklarheit: eine wichtige Voraussetzung bei verteilter Führung.