Führen auf Distanz

Teil 2 der Blogreihe "Führung in der Krise: Von Leadership Fatigue zu Führungs-Resilienz"

Führen auf Distanz
Lesedauer 6 Minuten

Führungskräfte sind zunehmend überlastet und suchen Orientierung, eine Art Führungsmüdigkeit macht sich breit. In ihrer Blogreihe setzen sich unsere Pioniere Christopher Lohmann und Marcus Minzlaff mit dem Phänomen auseinander, das sie Leadership Fatigue nennen und derzeit in vielen Kundengesprächen erleben: die geforderte, gestresste, oft erschöpfte Führungskraft. Hier erfährst Du mehr zu Herausforderungen und Gründen, die zu Leadership Fatigue führen, und zu möglichen Lösungsansätzen auf Basis des Pioneers LeaderSHIFT Modells. In Teil 2 der Blogreihe widmen sie sich dem Thema „Führen auf Distanz“. (Bildquelle: Kenny Eliason/unsplash.com)

Herbst 2022: Der Vorstand eines innovativen Hightech-Unternehmens, das während der Corona-Zeit stark gewachsen ist und europaweit Menschen eingestellt hat, verkündet nach langem Abwägen eine “Back to Office Policy”: Ab Frühjahr 2023 sollen alle Mitarbeitenden wieder in den Büroräumen arbeiten. Der Gedanke, dass über mehr Zusammenarbeit in Präsenz eine deutlich höhere Kreativität und Verbundenheit entsteht, ist nicht nur nachvollziehbar, er wird mittlerweile auch empirisch gestützt. Langfristig sind Mitarbeitende im Homeoffice weniger produktiv und kreativ als im Büro. Unser Kunde hat das früher erkannt als die meisten anderen Unternehmen. Und doch folgte auf die Ankündigung eine Kündigungswelle, die es bis in die Wirtschaftspresse geschafft hat. Wachstum sowie Motivation und Kreativität bei den verbliebenen Mitarbeitenden ist Stagnation und Lähmung gewichen. Bis heute hat sich die Organisation nicht von dem Einschnitt dieses Brain-Drains erholt.

Führen auf Distanz – von der Königsdisziplin zum dominanten Führungsmodell

Ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Bewältigung der Corona-Pandemie war der Wechsel der Beschäftigten ins Homeoffice. Die Notwendigkeit, sich zu isolieren, um Ansteckungsgefahren zu verringern, hat fast nebenbei einen enormen Digitalisierungsschub bewirkt – auf den Unternehmen wie Mitarbeitende zurecht stolz sind. Frühe empirische Studien belegten: Homeoffice mache nicht nur glücklich, sondern auch produktiver. Also alles gut? Nein, schon damals nicht wirklich. Denn von jetzt auf nachher und ohne weitere Vorbereitung wurde jenes Führungsmodell allgegenwärtig, das bis dato noch als das anspruchsvollste überhaupt galt: Führen auf Distanz.

Homeoffice vor und nach Corona

Keine Frage: Vieles ist für Führungskräfte schwerer, wenn Mitarbeitende sowohl im Büro als auch von zu Hause arbeiten. Die Führung von Mitarbeitenden auf Distanz birgt zusätzliche Herausforderungen, die Stress auslösen können. Das war schon immer so und ist in einer Pandemie nicht anders. Führungskräfte sind gefordert, ihr Team zusammenzuhalten, es auf gemeinsame Ziele auszurichten, im Team Neues zu kreieren und Verbundenheit zu schaffen. Hinzu kommt die Sorge vor fehlender Kontrolle oder von Kontrollverlust: Manche Führungskräfte haben Bedenken, dass ihre Mitarbeitenden von zu Hause aus nicht ordnungsgemäß oder weniger engagiert arbeiten. Das mag in vielen Fällen nicht zutreffen, aber die mittlerweile aktualisierten empirischen Studien legen den Finger in eine Wunde: Der zu Beginn von Corona festgestellte Produktivitätsschub im Homeoffice war wohl nur ein kurzfristiger. Die getroffenen Arbeitszeitregelungen hingegen wirken langfristig und fordern vor allem die Führungskräfte. Was das zeigt: Führung auf Distanz funktioniert inzwischen anders.

Die Führungskräfte sind post-Corona eines wichtigen Steuerungsinstrumentes für Homeoffice beraubt: Aufgrund der skizzierten Herausforderungen des Führens auf Distanz wurden früher Homeoffice-Regelungen hauptsächlich abhängig von zwei Kriterien festgelegt: der Eignung der Mitarbeitenden und ihrer Tätigkeit sowie der souveränen Zustimmung der Führungskräfte. Homeoffice in und post Corona wird jedoch über Betriebsvereinbarungen geregelt, die diese Unterscheidung und die Entscheidungshoheit der Führungskraft nicht mehr kennen. Jeder darf flächig und lange ins Homeoffice.

Das Problem: Herkömmliche, über Jahrzehnte gelernte Führungsinstrumente, die sich häufig auf Präsenz sowie vielfache Interventions- und Abstimmungsmöglichkeiten stützen, funktionieren in diesem Kontext nicht mehr. Auch in Bezug auf die veränderte Kommunikation und die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung über digitale Kanäle sind viele Führungskräfte noch nicht optimal unterstützt und aufgestellt. Führung und Zusammenarbeit im Team finden jetzt nicht einfach nur in gewohnter Weise hybrid – also online und in Präsenz – statt, sondern müssen neu gedacht werden.

Laissez-faire statt Kontrolle in Präsenz

Natürlich gibt es Führungsinstrumente, die auch auf Distanz funktionieren oder sich in den Kontext Führen auf Distanz weiterentwickeln lassen. Mit dem ad hoc der flächigen Homeoffice-Regelungen fehlte jedoch oft die notwendige Zeit zu Trainings und Austausch, um das nötige Führungswissen aufzubauen und vor allem das soziale Gefüge situationsgerecht mitzuentwickeln. Vor Corona konnte dieses in Ruhe entwickelt werden, um erfolgreich auf Distanz zu führen. Und genau das ist auch jetzt gefordert: Unternehmen müssen Angebote machen, Entwicklung und Austausch fördern, Freiräume geben. Damit eine im Büro sozialisierte Generation von Führungskräften in die neue Situation hineinwachsen kann. Denn: Trotz aller empirischen Ergebnisse ist Homeoffice gekommen, um zu bleiben. Etwas anderes lassen die aktuellen Machtverhältnisse gar nicht zu. Darauf gilt es sich einzustellen.

 

 

Freiraum ohne Extreme

Stattdessen beobachten wir, dass viele Unternehmen den Stand ihrer Führungskräfte überschätzen und sich mit den inzwischen etablierten technischen Möglichkeiten in Sicherheit wiegen. Läuft doch ganz gut, seit drei Jahren. Auch sind viele Führungskräfte so stark im operativen Alltag gefangen, dass kein Raum für die Weiterentwicklung als Führungskraft zu bleiben scheint. Problematisch wird die Situation, wenn sich Führung gewissermaßen in ihr Gegenteil verkehrt. Etliche Führungskräfte schütten das Kind mit dem Bade aus, indem sie einen kompletten Laissez-faire Ansatz fahren: wenn schon nicht die gefühlte Kontrolle im Büro, dann gar keine mehr. Einfach laufen lassen.

Es wäre fahrlässig anzunehmen, Laissez-faire wäre eine unausweichliche und sinnvolle Alternative. Die Herausforderung ist vielmehr: Wie kannst Du sinnvoll Freiraum gestalten, ohne in eines der Extreme zu verfallen? Führungskräfte müssen einen neuen Weg finden und Führungsinstrumente fortentwickeln – und zwar unter Volldampf mitten im laufenden Geschäft. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns verstärkt auf dieses Dilemma ausrichten und nach einem ausgewogenen Ansatz suchen:

  • Was sind die Hindernisse für effektives Remote Work in Deinem Team?
  • Wie sorgst Du für belastbare Beziehungen im Team, die die zunehmenden Turbulenzen und Stresssituationen tragen können?
  • Welche Rahmenbedingungen musst Du dafür schaffen?
  • Und wie ändert sich dadurch Deine Rolle?

Mehr noch und in anderer Weise als bisher sind Führungskräfte als unterstützender Coach an der Seite ihrer Mitarbeitenden gefordert. Die Beziehungen im Team selbst mitzugestalten, wird immer notwendiger. Architekt eines sozialen Gefüges zu sein, statt Expert:in in einem Wissensgebiet. Leider sind viele Führungskräfte noch weit davon entfernt, diese Rolle in dem geforderten Maß einnehmen zu können. Auch weil sie selbst nicht die nötige Unterstützung erfahren oder im Alltag zu wenig Zeit bleibt, daran zu arbeiten.

Der ewige Kampf um gemeinsame Bürotage

Fakt ist: Auch nach Corona wollen viele Teammitglieder einfach nicht mehr zurück ins Büro. Homeoffice ermöglicht so viel mehr im Privaten und bedeutet Lebenszeit, weil weniger Transferzeit. Der Ort der Leistungserbringung ist eine zusätzliche Entscheidungsvariable für sie, ihre Führungskräfte und ihre Teams – und ein permanenter Zankapfel. Selbst niedrigste Anwesenheitsforderungen werden daher regelmäßig hinterfragt und diskutiert – und oft einfach gar nicht erfüllt. War früher die Fünftage-Woche im Büro selbstverständlich, ist heute zu oft schon der eine gemeinsame Teamtag pro Woche zu viel. Das nervt. Es ist eine Belastungsprobe sowohl für Führungskräfte, die erstens eine kontroverse Diskussion im Team moderieren müssen und zweitens selbst alles andere als neutral sind. Denn es wird zu einem massiven Problem, wenn Unternehmen durch mehr Anwesenheit im Büro viel zu gewinnen, Mitarbeitende aber vor allem zu verlieren haben.

Undankbare Sandwichposition

Wohl an kaum einer anderen Stelle ist der doppelte Druck der Sandwich-Position für viele Führungskräfte so spürbar wie hier: Auf der einen Seite kündigen gefragte und insofern souveräne Mitarbeitende lieber als ins Büro zurückzukehren – wie unser Kund:innenbeispiel ebenso zeigt wie eine aktuelle Umfrage aus der Versicherungsbranche. Andererseits sitzt den Führungskräften das Top-Management im Nacken. Voller Skepsis gegenüber Leistung und Effizienz des hybriden Arbeitens und voller Bedauern über vermeintlich zu großzügige Homeofficeregelungen sieht das Top-Management die Anwesenheitsquote im Büro bestenfalls als Steuerungsgröße – und schlimmstenfalls als Beweis für gute Führung und Führungskräfte.

Wen wundert es, dass Führungskräfte zunehmend Druck verspüren, sich unverstanden und zu wenig unterstützt fühlen.

Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe: „Führung in der Krise: Von Leadership Fatigue zu Führungs-Resilienz“. In Teil 1 haben wir das Thema Führung in der Krise – die erschöpfte Führungskraft behandelt. In Teil 3  beschäftigen wir uns mit dem Thema „Fachkräftemangel und der Ruf nach eigenverantwortlichem Arbeiten„.

 

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AutorInnen dieses Beitrags
Dr. Christopher Lohmann
Executive Advisor & Beirat

Seit 2022 unterstützt Christopher bei HR Pioneers die aktive Begleitung von Veränderungen. Der Führungs- und Managementebene und ihren Herausforderungen gilt dabei ein besonderer Fokus.

Marcus Minzlaff
Management Consultant

Marcus widmet sich der Aufgabe, mit Führungskräften und Teams in Transformationen ihren eigenen Entwicklungspfad zu gestalten, der einem immer komplexeren und volatileren Umfeld gerecht wird.


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