Agilität trifft Ehrenamt: Agile Transformation in der Kirche

Pastor Timo Pickhardt im Interview

Pastor Timo Pickhardt bei einer kirchlichen Trauung. (Bildquelle: ©svenjaegerfotografie)
Lesedauer 7 Minuten

Timo Pickhardt ist von Beruf Pastor und Agilitäts-Fan. Seit zwei Jahren ist er dabei, eine evangelische Freikirche in Wermelskirchen mit circa 350 Mitgliedern agiler auszurichten. Unsere Pionierin Anja Thiede hat Timo Pickardt im Rahmen unseres Certified Agile Transformation Manager-Trainings kennengelernt und die Gelegenheit genutzt, ihn hinsichtlich seiner „agilen Mission“ zu interviewen. (Bildquelle: ©svenjaegerfotografie)

1. Timo, was hat Dich als Pastor zum Thema Agilität geführt?

Ohne Zweifel spielt hier mit hinein, dass ich eine Affinität zu Management-Themen habe. Bevor ich Pastor geworden bin, war ich im kaufmännischen Bereich tätig. Zudem bin ich der Meinung, dass Management in einer Kirche sich nicht wesentlich vom Management in anderen Organisationen unterscheidet: geht es doch grundsätzlich darum, Menschen in eine gemeinsame Richtung zu bewegen. Das christliche Menschenbild ist hier nah dran an agilen Prinzipien, weil es davon ausgeht, dass Menschen gute Gaben, Kreativität und Schaffenskraft in sich haben!

2. In welche Richtung soll es in Deiner Gemeinde gehen? Sprich: Welche Ziele verfolgst Du mit Deiner agilen Arbeit?

Lange war die Arbeit in unseren Gremien, also in den verschiedenen Arbeitsbereichen hier in unserer Kirche, nicht sonderlich effizient. Sie hat die Menschen zu viel Energie gekostet – mit dem Ergebnis, dass sich einige von ihnen nicht mehr engagieren. Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die für die Gemeinde nicht mehr zur Verfügung stehen, höre ich durchgängig Sätze wie „Ich hatte das Gefühl, dass man mehr Energie reinsteckt, als man rauskriegt“. Eine klassische Beschreibung von einer ineffizienten Organisation! Mein Ziel ist, den eigentlichen Zweck hinter der Organisation Kirche wieder mehr in den Vordergrund zu rücken: Die Menschen in unserer Gemeinde sollen einen deutlichen Mehrwert haben, wenn sie uns besuchen. Ich wünsche mir, dass sie künftig aufblühen, wenn sie in Kontakt mit unserem Gemeindezentrum kommen oder sich für uns engagieren.

3. Was machst Du konkret, um wieder Menschen für das Ehrenamt in der Kirche zu gewinnen – und auch zu halten?

Ich versuche, eine attraktive Kultur für Ehrenamtler:innen zu schaffen. Sie sind in ihrem persönlichen Arbeitsumfeld zunehmend gewohnt, agil und nutzerorientiert zu arbeiten und wollen es auch bei ihrer unentgeltlichen Tätigkeit nicht mit veralteten Methoden zu tun haben und sich kontrolliert fühlen. Ich habe daher Einiges vom agilen Mindset übernommen und setze darauf, einzelne Personen zu ermächtigen und sich als wirksam zu begreifen. So sollen die Mitarbeitenden für die Pfadfinder beispielsweise die Möglichkeit haben, sich wirklich auch um die Kinder zu kümmern, anstatt sich in irgendwelchen Gremien aufhalten zu müssen.

Wichtig ist mir darüber hinaus, den Menschen, die für uns arbeiten, möglichst viel Wertschätzung entgegenzubringen und ihnen Anreize zur Freude zu geben – etwa durch eine jährliche Mitarbeiterparty, für die wir keine Kosten und Mühen scheuen. Das brennt sich ein in die Köpfe der Mitarbeitenden.

4. Was läuft in Deiner Gemeinde dank Deiner Agilitäts-Bemühungen jetzt anders als noch vor zwei Jahren?

Unser Gemeindebüro ist inzwischen völlig virtuell organisiert. Das ehrenamtliche Team hat keine festen Bürozeiten, ist aber motiviert, anzupacken, und den Gremienmitgliedern Themen abzunehmen. Damit dies erfolgreich laufen kann, sind wir wesentlich transparenter geworden. In fast allen Gremien organisieren wir inzwischen unsere gemeinsame Arbeit mithilfe des Trello Boards und beschreiben dort laufende sowie anstehende Prozesse und Tätigkeiten.

Für die Ehrenamtler:innen in den Teams ist es wichtig zu wissen, wo sie für Besucher:innen und Mitglieder unserer Kirche einen konkreten Mehrwert liefern sollen und können. Das hört sich vielleicht wie das kleine 1×1 der Organisation an, aber meiner Erfahrung nach gerät das gerade im ehrenamtlichen Kontext schnell aus dem Fokus. Deshalb haben wir uns in dem Gremium der Kirche gefragt, wo wir uns Ergänzung bei spezifischen Fragen holen können oder auch, was wir besser delegieren sollen. Diese Fragen zu stellen hat uns dahin geführt, dass wir einen wichtigen Prozess in die Hände eines agilen Teams gelegt haben, wo er besser aufgehoben ist. Ein agiles Team zu führen will dann wiederum auch neu gelernt sein.

5. Für wen ist das Trello Board zugänglich?

Theoretisch können da alle reinschauen, die dazu Lust haben. Die Idee ist, eine Schwarmintelligenz zu generieren und mit möglichst vielen Menschen unkompliziert kooperieren zu können. Ich organisiere zum Beispiel auch meine Predigten über Trello. Wer mag, kann mitwirken und Ideen einbringen, – etwa passende Zitate vorschlagen. Die Musiker, die den Gottesdienst begleiten, können sich über Trello die nötigen Infos einholen, um passende Lieder für meine Predigt herauszusuchen, etc.

Zudem können diejenigen, die bestimmte Aufgaben zeitlich nicht schaffen, oder diese nicht gerne machen, über das Trello Board nach Unterstützung fragen. Beispiel Fördermittelanträge: Es müssen so viele Anträge geschrieben werden, dass dies von einer Person alleine nicht zu bewältigen ist. Wichtig ist allerdings, eine Kooperation zu ermöglichen und die hierfür nötigen Infos für alle sichtbar zu machen. Im Falle der Fördermittelanträge wäre das zum Beispiel, die Fördermittel-Anträge vom Vorjahr bei Trello einzustellen.

6. Hast Du eigentlich vorher in der Gemeinde kommuniziert, dass Du agil arbeiten willst?

Nein, ganz bewusst nicht. Um die Kirche in Sachen Agilität zu erreichen, musst Du meiner Meinung nach unbelastete Begriffe finden für die Dinge, die Du tust. Es besteht ein gewisses Misstrauen gegenüber dem, was aus der Unternehmenswelt kommt.

Unser agiles Team heißt in der What’sApp-Gruppe zwar so, aber für die Gemeinde haben wir es Unterstützer-Team genannt. Der Scrum Master ist bei uns jemand, der auf die Zusammenarbeit achtet, und der Product Owner ist der Prozessleiter beziehungsweise die Prozessleiterin.

7. Mit der Agilität sind bei Euch sicherlich auch andere Werte entstanden …

Ja und Nein – Ich glaube ja, dass Agilität stark vom christlichen Menschenbild geprägt ist, aber die Werte rücken neu in den Fokus und erleben von daher auch eine Art „Renaissance“. Das haben wir gezielt vorangetrieben. In der Vergangenheit standen unsere Werte lediglich auf dem Papier: Das Gremium hatte diese mehr oder weniger vorgegeben. Doch die Gemeindemitglieder konnten sich zum Großteil nicht mit diesen Werten identifizieren. Wir haben daher einen Wertefindungsprozess initiiert, bei dem wir die Menschen mit einbeziehen. Konkret haben wir eine Reihe von Werten, die wir als wichtig erachten, gelistet, und holen uns mittels einer Umfrage in der Gemeinde nun ein Feedback ein: Passen diese Werte für die Menschen? In welcher Reihenfolge sehen sie die Werte, und wo ist ihrer Meinung nach die größte Lücke zwischen gelebter Realität und Anspruch? Auch fragen wir, ob die Formulierungen der Werte stimmig sind, weil wir sie näher an die Sprache und an das Lebensgefühl der Menschen bringen wollen. Wenn die Leute mitwirken können an der Auswahl der Werte, am Zuschnitt und an den Formulierungen, dann ist die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches höher, dass sie sich auch mit den Werten identifizieren.

8. Wie geht es nach der Umfrage weiter mit Eurem Werteprozess?

Wir werden eine Retrospektive sowie ein Review organisieren, um dann ein Team für die Umsetzung der Werte ins Leben zu rufen. Dieses soll Maßnahmen ausarbeiten und Initiativen schaffen, um einzelne Werte, die die Mehrheit für wichtig hält, zu vertiefen.

Praktisch heißt das: den Menschen positive Erfahrungen geben und einzelne Experimentierfelder freigeben. Damit unterscheiden wir uns gar nicht so sehr von der Unternehmenswelt.

9. Was war Dein größtes Learning beim Einführen von Agilität in der Gemeinde?

Es ist nötig zu wissen, wo die Menschen stehen und welche Erfahrungen sie gemacht haben, bevor man agile Methoden einsetzt. Ich habe zum Beispiel bei einem meiner ersten Meetings das Taschenrechner-Spiel gespielt mit dem Hintergedanken, Kooperation auszuprobieren und zu steigern. Das Spiel ist hierfür normalerweise gut geeignet, da alle in „einem Spielfeld“ arbeiten müssen. Was ich jedoch nicht wusste: Vor meiner Zeit gab es einen Prozess, bei dem die Teilnehmenden gelernt haben, Reibung durch „abgesteckte Spielfelder“ zu vermeiden. Somit konnte dieses Spiel nicht funktionieren beziehungsweise die Teilnehmenden haben nicht verstanden, was ich von ihnen wollte.

 

Pastor Timo Pickhardt bei einer kirchlichen Trauung.

Bildquelle: ©svenjaegerfotografie

10. Welche Voraussetzungen braucht es Deiner Meinung nach darüber hinaus für agiles Arbeiten und Lernen?

Ich spreche wieder subjektiv für mein Arbeitsfeld „Kirche“ und ehrenamtliche Arbeit. In der Vergangenheit war die Motivation zur Mitarbeit durch Tradition, Verantwortungsgefühl oder vielleicht sogar durch die soziale Stellung von Kirche bestimmt. Das trägt heute nicht mehr und Kirche hat sich glaube ich leider von den Menschen entfernt – vielfach sind wir in der Ansprache der Menschen nicht mehr relevant und werden auch so wahrgenommen.

Diese Erkenntnis ist Voraussetzung für Wandel und gleichzeitig eine riesige Chance: Es ist wichtig, den Menschen ständig vor Augen zu halten, warum unsere Tätigkeit einen Sinn hat und welcher Nutzen darin für Menschen ist. Ein Umfeld zu schaffen, indem wir unser Tun ständig hinterfragen und neue Wege suchen, bedeutet zu lernen. Dabei sind Experimentierfelder und Wertschätzung für Engagement ein Schlüssel.

11. Wie kommt die eingeführte Agilität insgesamt in der Gemeinde an? Erhältst Du entsprechende Feedbacks?

Die Menschen, die seit ein, zwei Jahren mit mir oder uns zusammenarbeiten, sagen, dass sie Spaß an der Arbeit haben. Das ist mir das wichtigste Feedback. Auch die Mitglieder, die zu den Gemeindeversammlungen kommen, sagen, dass die Treffen ihnen Spaß machen. Es wird wieder mehr gelacht, auch wenn die Themen mitunter schwer sind. Es kommen Menschen hinzu, die eine Relevanz für sich und ihre Familie entdecken und sich mit uns engagieren wollen.

12. Wo holst Du Dir persönlich Inspiration? Hast Du einen Tipp, den Du gerne weitergeben möchtest?

Ich finde es wichtig, stets neue Themen zu entdecken und sich quer durch verschiedene Themengebiete zu lesen. Im Bereich Kommunikation war es für mich persönlich ein großer Schatz, viel Verschiedenes gelesen zu haben.

Darüber hinaus bin ich sozusagen zum Weisheitssucher geworden: Durch meine Arbeit bin ich viel mit sterbenden Menschen in Kontakt, mit über 80-Jährigen, zum Teil auch mit über 90-Jährigen. Das gibt mir die Chance, mit Leuten zu sprechen, die für mich in manchen Lebensbereichen und in der Art und Weise, wie sie mit Dingen umgehen, Vorbilder sind. Manche dieser alten Menschen in unserer Gesellschaft bringen meiner Meinung nach eine Weisheit mit, die mir fehlt. Ich will Weisheit dabei ganz deutlich von Wissen abgrenzen – ich glaube, dass wir heute ein unfassbar großes und jederzeit verfügbares Wissen haben, dass uns aber trotzdem die Weisheit fehlt, entsprechend zu handeln.

Danke an dieser Stelle an Timo Pickhardt für dieses Interview!

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AutorInnen dieses Beitrags
Anja Thiede
Content Managerin/Redakteurin

Seit März 2022 verstärkt Anja als Content Managerin das Marketing Team. Dabei ist sie vor allem für die unternehmenseigenen Inhalte und Kanäle zuständig.


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