Warum die Shu Ha Ri-Strategie so selten funktioniert bei der Einführung von Scrum und Agilität

Shu-Ha-Ri-Strategie – 1
Lesedauer 4 Minuten

„Erst lernen, dann loslösen und endlich übertreffen“. So lautet die Shu Ha Ri-Strategie beim Lehren und Lernen der japanischen Kampfkunst. Gerade bei der Einführung von agilen Arbeitsweisen wie Scrum begegnet mir in Unternehmen immer wieder diese Methode – und hält sich hartnäckig (Bildquellen: Thao Le Hoang / Unsplash).

Teams sollen Scrum in den Stufen Shu, Ha und Ri lernen und anwenden. In der Praxis heißt dies: in der Shu-Phase die Regeln lernen, buchstabengetreu befolgen und dem:der Meister:in gehorchen. In der Ha-Phase den Grundprinzipien treu bleiben. Dabei sind kleinere Anpassungen erlaubt. In der Ri-Phase können Lernende schließlich völlig frei entscheiden und als Meister:in ihren ganz eigenen Weg gehen. Auch in der agilen Führungskräfteentwicklung wurde dieses Konzept schon ins Spiel gebracht.

Klingt logisch, ist aber nicht allgemeingültig

Dieses Konzept erscheint auf den ersten Blick sehr einsichtig. Auf den zweiten muss man feststellen, dass diese Strategie nicht übertragbar ist auf das Setting einer Scrum-Einführung. Wir erlernen asiatische Kampfkunst in einem geschützten Klassenraum unter optimalen und kontrollierbaren Bedingungen. Treffe ich später in einem Wettkampf auf eine:n Gegner:in, hat diese:r das gleiche Training erhalten wie ich. Auch die Wettkampfbedingungen sind immer dieselben und beiden Parteien vertraut. Dieses kontrollierte Setting ist jedoch fernab der Realität und bei der Einführung von Scrum nicht vorhanden.


Einzigartige Praxis versus festes Regelwerk

Scrum wird nicht im Labor, sondern am lebenden Objekt, direkt in der Praxis eingeführt. Und diese ist einzigartig und komplex und lässt sich nicht mit Regeln dingfest machen. Scrum soll von Menschen praktiziert werden, deren individuelles Geschäft auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert. Sie sind in spezielle Rahmenbedingungen eingebunden: in ein funktional geschnittenes Team etwa, in dem jede:r unabhängig von den anderen, aber nicht von Kolleg:innen außerhalb des Teams arbeiten kann. Oder in einem Team mit mehr als den empfohlenen neun Mitglieder, in einen Alltag, der eher durch kurzfristiges Tagesgeschäft geprägt ist. Zwingen wir diese Menschen im Shu-Sinne nach Scrum by the book zu arbeiten, verliert das Modell für sie schnell den Sinn.

Raum lassen für Komplexität

Wir erleben hier genau das, wofür Agilität gemacht ist: Komplexität. Und die bekommen wir nicht mit starren Regeln und Prozessen in den Griff, sondern nur mit agilen Arbeitsprinzipien und dahinterstehenden Werten. Genau diese wollen wir in einer agilen Transformation vermitteln. Mit dem Shu Ha Ri-Vorgehen jedoch tun wir genau das Gegenteil. Schauen wir uns die Inhalte von agilen Werten und Prinzipien an, geht es vor allem um die berühmte Augenhöhe, gegenseitige Wertschätzung und Respekt, Diversität und Selbstverantwortung. Hierarchien werden abgebaut zu Gunsten verteilter Führung. Führung soll durch freiwilliges Folgen entstehen. Aber was leben wir vor, wenn wir von Mitarbeiter:innen verlangen, „die Klappe zu halten“ und zu befolgen, was die:der Meister:in sagt? Deshalb passt diese Strategie auch von der Haltung her nicht zu Agilität. Nicht selten führen solche Widersprüche in Transformationsprozessen zu Zynismus und innerer Kündigung – leider sehr nachhaltig.

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Von Business Theater bis blindem Regel-Gehorsam

Wie mit diesem Frust umgegangen wird, kann sehr unterschiedlich aussehen. In eher durch Angst geprägten Kulturen verfallen die Teams ins Business Theater, wie Unternehmer und Bestsellerautor Lars Vollmer es gerne nennt. Sie spielen nur für den schönen Schein mit. Auf der Hinterbühne läuft die Arbeit weiter wie bisher, um das Geschäft am Laufen zu halten. In anderen Kulturen sieht die Reaktion vielleicht offen destruktiv aus und das Vorgehensmodell wird unverblümt abgelehnt. Häufig gerät dabei Agilität leider gänzlich in Sippenhaft und wird undifferenziert ad acta gelegt – nach dem Motto „Agilität haben wir auch schon ausprobiert, funktioniert bei uns nicht.“ Auch die gegenteilige Reaktion habe ich schon erlebt: Ein Team klammert sich nur noch konsequenter an die gegebenen Regeln in der Hoffnung auf Erfolg – und verweigert Kolleg:innen kurzfristige und formlose Hilfsangebote oder sogar die Behebung von schwerwiegenden Fehlern mit der Begründung des geschützten Sprints. Hier steigt das Umfeld sehr schnell auf die Barrikaden und zieht den Sinn der agilen Transformation in Zweifel.

Methodik: Mittel zum Zweck

Auf den dritten Blick wirkt die Shu Ha Ri-Strategie wie ein hilfloser Versuch, die – teils durchaus berechtigten – Widerstände gegenüber Scrum zu überwinden. Doch wenn Beteiligte mundtot gemacht werden, bleiben wichtige Botschaften des Widerstands verborgen – und damit entscheidende Erkenntnisse. Shu Ha Ri hat das Potenzial, mehr kaputt zu machen als Nutzen zu stiften. Aus meiner Sicht geht es für externe und interne Berater:innen viel mehr darum, die Expert:innen vor Ort wirklich ernst zu nehmen. Statt auf regelbasierte Vorgehensmodelle und Transformationsstrategien zu bauen, bedarf es des Blicks auf das, was in der individuellen Situation zu mehr Agilität führt. Das Geschäft soll sich schließlich nicht der Methodik anpassen, sondern die Methodik muss zur Aufgabenstellung passen.

 

 

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1 Kommentar

  1. Herzlichen Dank für den spannenden Artikel! Ich selbst trainiere traditionelles Karatedo von klein auf und bringe gerne meine Sichtweise auf Shu Ha Ri im agilen Kontext ein.

    Es geht in keinster Weise darum seine Schüler „mundtot“ zu machen. Im Gegenteil: der Mehrwert entsteht darin, die Regeln durch aktives Nachfragen kennenzulernen und zu verstehen (Warum machen wir das so? Was haben sich die „Meister“ von Scrum oder der Kampfkunst dabei gedacht?). Sind diese Zusammenhänge und alle agilen Zahnrädchen, die ineinandergreifen und häufig nur zusammen ihr echtes Potenzial entwickeln, soweit in Fleisch und Blut übergegangen, kann gerne variiert werden. Aber bitte nicht vorher, denn das führt zu den häufig beschriebenen Auswirkungen von „Scrum-but“, also der Anwendung von nur wenigen agilen Techniken mit mäßigem Ergebnis. Übertragen auf die Kampfkunst: Wenn ich nur lerne, wie ich mich mit meinen Beinen verteidige, werde ich Probleme bekommen, wenn mein Trainingspartner mal so nah rankommt, dass ich meine Hände und Arme gezielt einsetzen muss.

    In der Praxis bin ich ebenfalls ein Fan davon mit ad-hoc Themen pragmatisch umzugehen (Incidents etc.). Es ist in meinen Augen eine falsche Anwendung, wenn Redeverbote à la „mit meinen Entwicklern darf erst in 2 Wochen wieder gesprochen werden“ erteilt werden. Hier geht es in meinen Augen häufig weniger um die korrekte oder falsche Anwendung von Agilität sondern eher um den Umgang mit Sollbruchstellen zu nicht-agilen Bereichen (sowohl im Unternehmen als auch in der Zusammenarbeit mit Kunden und Dienstleistern).

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