Leading into the future – #3 Führung ist die Befähigung eines Systems

Ein Beitrag von Marcus Minzlaff und Esther Römer

Führung ist die Befähigung eines Systems – Header
Lesedauer 6 Minuten

„Wie kann ich alle mitnehmen?“ Wie gut ich diese Frage kenne! Als Führungskraft war ich immer wieder mit dieser Herausforderung konfrontiert. Bei den kleinen und erst recht bei den großen Veränderungen, die ich voranbringen wollte. Als Coach und Berater höre ich sie nun noch viel dringlicher. Sie hat eine wichtige Gemeinsamkeit mit der im Folgenden beschriebenen Herausforderung, die Führungskräfte so oder ähnlich immer wieder erleben:

Videocall mit einem Geschäftsführer, der den Kulturwandel in seiner Organisation tatkräftig unterstützen möchte: Er reflektiert und nimmt sich selbst in die Pflicht: „Ich will weniger entscheiden und dafür meine Mitarbeiter:innen entscheiden lassen. Aber: Die machen das nicht so zügig und entschlossen – meist entscheiden sie sogar überhaupt nicht und delegieren es wieder nach oben. Natürlich nehme ich das dann nicht gleich wieder an, aber das geht jetzt schon eine ganze Weile so und tut uns nicht gut. Wie kann ich sie dazu bringen, entschlossen Verantwortung zu übernehmen?

Was kann man da tun? Aushalten und ab und zu – bevor die Organisation in eine kritische Situation gerät – doch entscheiden? Immer wieder darauf hinweisen, dezenten Druck ausüben? Beides ist okay, aber man hält so nur das Symptom in Schach.

Wir haben eine andere Perspektive eingenommen und etwas provokant die Gegenfrage gestellt: „Wieso ist es sinnvoll, dass die Mitarbeiter:innen eben nicht entschlossen Verantwortung übernehmen und entscheiden?“

Einen kurzen Impuls des Widerwillens galt es auszuhalten. Wieso in aller Welt soll das Verhalten sinnvoll sein! – Naja, unterstellen wir einfach mal, dass der Mensch sich in den Systemen, in denen er sich bewegt, sinnvoll verhält. Nicht unbedingt nur rational, gerne auch emotional und intuitiv, aber eben subjektiv empfunden sinnvoll. Unterstellen wir also, dass das beobachtete Verhalten gar nicht das eigentliche Problem darstellt! Dann sind es folgerichtig die Rahmenbedingungen des Systems, wo hinzuschauen ist. Im gegebenen Fall müsste demnach die Frage „Wie kann ich Mitarbeitenden dazu bringen, entschlossen Verantwortung zu übernehmen?“ umformuliert werden in „Wie gestalte ich den Rahmen so, dass entschlossene Verantwortungsübernahme wahrscheinlicher – weil sinnvoller – wird?“

 „A bad system will beat a good person anytime“ (Edward Deming)

Warum Mitarbeitende oft nicht entscheiden

 

Die eigentliche Führungsaufgabe liegt also nicht darin, direkt am Verhalten anzusetzen, sondern am System. Gründe dafür, dass die Mitarbeitenden zurückhaltend mit Verantwortungsübernahmen beziehungsweise Entscheidungen sind, können beispielsweise sein:

  • Den Menschen ist unklar, ob und was sie wann entscheiden dürfen.
  • Sie haben die Erfahrung gemacht, dass eine Entscheidung gerne auch mal von der Führungskraft überstimmt wird.
  • Die Entscheidungsfindung im Team birgt ungewohntes Konfliktpotenzial.

Damit die Mitarbeitenden mehr Sicherheit gewinnen, kann ein Delegation Board helfen. Im Kern handelt es sich hierbei um eine Tabelle, in der gemeinsam mit dem Team festgelegt wird, wer in welcher Rolle was entscheiden darf. Das braucht keine lange Auflistung sein, es reicht schon, die wesentlichen Punkte zu klären, bei denen aktuell Unsicherheit besteht. Im Prinzip ist das Delegation Board auch ein Übungs-Tool: für das Team, um gemeinsam zu Entscheidungen zu gelangen, für die Führungskraft, um wohldosiert loszulassen. Wichtig dabei sind regelmäßige Retrospektiven, wie sich die Vereinbarungen bewähren, was ergänzt oder geändert werden sollte. Weiter gedacht kann die Vorgehensweise ein sinnvoller Schritt hin zu verteilten Führungsrollen sein, wie es sie in agilen Frameworks wie Scrum gibt.

Zudem bietet es sich an, die Entscheidungsverfahren an sich gemeinsam zu spezifizieren: Wie wird im Team entschieden. Wer mag, geht es spielerisch an mit Decision Poker. Ziel ist, zu klären, ob eine Entscheidung von jemandem im Alleingang getroffen werden darf, nach Beratung mit anderen, im Konsens mit allen, durch Mehrheitsabstimmung, durch Einwandintegration, usw. Wird die Entscheidungsfindung komplett offengelassen, ist das Risiko hoch, dass sie im Team entweder zum lähmenden oder konfliktträchtigen Prozess wird. Meistens sogar beides.

 

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(Bildquelle: Cherrydeck, unsplash.com)

Mitarbeitende zur Selbstverortung anregen

 

Indem wir uns neu fokussieren und mehr am System arbeiten, werden wir wirkungsvoll. Wir führen wirksamer hinsichtlich der Probleme, die uns wie das sprichwörtliche Murmeltier täglich grüßen.

Mit diesen Gedanken nochmals zurück zur Einstiegsfrage:

„Wie kann ich alle mitnehmen?“

Hinsichtlich dieser Frage kann Arbeit am System echt Nerven kosten, entlarvend, aber auch absolut segensreich sein. Auf jeden Fall folgen weitere Fragen:

  • Soll ich als Führungskraft die Kolleg:innen wirklich mitnehmen (passiv) oder besser darauf einwirken, dass sie von sich aus laufen (aktiv)? Jedenfalls sollte ich mich im ersten Fall nicht wundern, wenn sie im Veränderungsprozess tendenziell passiv bleiben.
  • Vor allem: Wieso gehen die Menschen eigentlich nicht von selbst mit? Dürfen oder können sie nicht? Wollen sie nicht, weil das Ziel nicht klar ist? Oder nicht attraktiv erscheint? Wieso ist es ein sinnvolles Verhalten, dass sie nicht von allein mitgehen?
  • Müssen wir als Führungskräfte wirklich den Menschen den Nutzen einer Veränderung „vermitteln“? Woher haben wir eigentlich das Wissen, was ihnen wirklich Nutzen bietet? Sprechen wir ihnen die Fähigkeit ab, selbst zu erkennen? Oder ist es eher die Sorge, dass sie nicht den „richtigen“ Nutzen erkennen? Wie gestalten wir den Rahmen so, dass sie den Nutzen einer Veränderung frei erkunden können? Es geht vermutlich viel mehr um Zuhören als um Vermitteln.

Wie oft setzen Unternehmen auf extrinsische Motivation, um ein unklares, unattraktives Ziel zu pushen: Monetäre Anreize, Belohnungen, Incentives, subtiler oder offener Druck, alles was die Trickkiste so hergibt. Das mag manches Mal die Illusion von Bewegung erzeugen, führt aber jedes Mal auf ganz dünnes Eis, sobald belastbares Commitment gefordert ist. Die intrinsische Motivation ist dann entscheidend. So weit, so bekannt.

Aber mal einen Schritt weiter: Was heißt das für uns Führungskräfte? Die üblichen Führungsinstrumente, die wir so an die Hand bekommen, scheinen nicht zu passen. Wie können wir also den Rahmen so gestalten, dass intrinsische Motivation zum Tragen kommt, es wahrscheinlicher und sinnvoller wird, dass sich die Mitarbeitenden von sich aus für die Veränderung engagieren? Schließlich können wir nicht wissen und schon gar nicht vorgeben, was die einzelnen Menschen innerlich motiviert, mit uns mehr oder weniger engagiert ein Ziel zu verfolgen.

Wenn wir dies nicht wissen, hilft fragen. Innehalten, zuhören (siehe auch unsere vorangehende Leadership-These). Und so Selbstklärung bei den Mitarbeitenden anstoßen!

Im Kern reichen hierfür zwei Fragen:

  1. „Was möchtest Du zu unserer angestrebten Veränderung beitragen?“
  2. „Und wie kann ich Dich dabei unterstützen?“

Mit diesen Fragen wird ein Anreiz geschaffen, damit die Mitarbeiter:innen selbst verorten können, ob und mit welchen Aspekten der angestrebten Veränderung sie in Resonanz gehen.

Und: Diese Selbstverortung hilft auch mir als Führungskraft. Konkret immer dann, wenn …

  • die Zielrichtung noch gar nicht klar ist.
    Dann muss ich mit der bereits erwähnten Gegenfrage erstmal für Klarheit bei mir sorgen. Mich damit zu befassen, wie ich die Kolleg:innen mitnehmen kann, wäre viel zu früh. Wohin denn eigentlich!?
  • die Zielrichtung verstanden ist und es genügend gefühlte Schnittmengen gibt, also Aspekte der Veränderung, die mein:e Kolleg:in attraktiv und erstrebenswert findet. Dann hat sich die Frage, wie ich sie mitnehmen kann, erledigt.
  • die Zielrichtung nichts wirklich Attraktives für die Kolleg:innen hat.
    Dann ist die Frage des „Mitnehmens“ auch nicht mehr sinnvoll. Vielmehr ist zu hinterfragen: Ist das Ziel wirklich gerade „dran“ oder sollten wir eine etwas andere Richtung einschlagen? Müssen wir überhaupt alle mitnehmen? Wo gibt es echte Unterstützung für mein Ziel, wenn ich daran festhalte und zu wenige mitgehen wollen?

 

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(Bildquelle: Airfocus, unsplash.com)

 

Tiefen Dialog kreieren

 

Die Arbeit am System kann unter anderem darin bestehen, Dialogräume zu initiieren, ob in Vier-Augen-Gesprächen, im Team oder übergreifend in der Organisation, etwa durch Formate wie Bar Camps oder Open Space. Das Ziel ist, dass Dialog darüber entsteht, was uns wirklich, wirklich wichtig ist an unserer Arbeit.

Welche Fähigkeiten fordert das von Dir als Führungskraft? Insbesondere Neugierde, Empathie und Mut. Neugierde und Empathie, weil Du mit langem Atem ein vertrauensvolles Miteinander fördern musst, bei dem wir uns als Menschen zeigen können mit unseren Emotionen, Wünschen und Sorgen, angefangen bei Dir selbst. Weil Du damit tiefen Dialog kreieren hilfst mit echtem Interesse am Gegenüber. Sonst bleibt es eine weitere Aufführung im täglichen Business-Theater. (An dieser Stelle möchte ich auf „The Power of Vulnerability“ von Brené Brown verweisen, die das sehr gut ausführt.)

Mut indes ist nötig, weil das Ende offen ist. Du legst es bewusst in die Hände des Kollektivs. Dorthin, wo es eigentlich schon immer lag …

„Leadership is the capacity of a system to co-sense and co-shape the future. It is not an individual task.“ (Joseph Jaworski)

Und hier schließt sich der Kreis: Führung ist letztlich Befähigung eines Systems. Es handelt sich dabei um das System als Ganzes, das nicht allein einzelnen Rollen zugeordnet wird. Das macht Führungsrollen in keiner Weise obsolet, aber sie sind nur ein Teilaspekt – und vielleicht nicht einmal der zentrale. Die Beziehungen der einzelnen Elemente sind viel wichtiger: die Beziehung untereinander, zu sich selbst und zur Außenwelt. Beziehungen, in denen Energie und Informationen fließen. Auf diese Qualitäten gilt es stärker den Blick zu lenken. Integral betrachtet ist Führung ein „Holon“ – ein Ganzes, das Teil eines Ganzen ist -, wie Ken Wilber es nennen würde.

Dieser Beitrag ist Teil der Führungsthesen von Marcus Minzlaff und Esther Römer. Die vorherige These „Mehr spüren – weniger führen“ ist am 30. März erschienen. Die vierte These „Führung geht über den Tellerrand der Organisation hinaus“ findest Du hier.


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