Leading into the future – #2 Mehr spüren – weniger führen

Ein Beitrag von Esther Römer und Marcus Minzlaff

Mehr spüren – weniger führen – 3
Lesedauer 8 Minuten

In der letzten These haben wir uns mit Haltung beschäftigt. Haltung im Sinne einer Geisteshaltung. Allerdings erreichen wir Haltung nicht nur durch und in unserem Geist, auch unser Körper, etwa, gehört voll und ganz dazu. So wird es in diesem Beitrag um die ganzheitliche Betrachtung von Dir als Führungskraft bei der Führung gehen. Wir sind davon überzeugt: Gute Führung braucht Dich in Ganzheit: Deinen Körper, Deine Gefühle, Deinen Verstand und Deine Intuition.

Sowohl Marcus als auch mir ist diese Ganzheit ein Herzensanliegen. Ich selbst bin geprägt durch den Anspruch, Leistung zu bringen und Ergebnisse verstandesmäßig zu erzeugen, als Frau den Mann zu stehen. Gefühle und Schwingungen haben da keinen Platz. Als Führungskraft bin ich regelmäßig in Meetings, die vor allen Dingen im agilen Kontext sehr ergebnisorientiert sind. Während des Meetings bin ich unglaublich konzentriert und angestrengt. Hinterher? Puff. Rasende Kopfschmerzen und das Gefühl, ausgesaugt zu sein. Und die leise Stimme in mir: Muss das so sein? Geht das auch irgendwie anders?

Wichtig: ganzheitlicher Selbstkontakt

Diesem Gefühl sind wir auf den Grund gegangen. Wir haben entdeckt, wie wichtig ein ganzheitlicher Selbstkontakt für eine gute Selbstführung ist. Das wiederum ist DIE Grundlage für die Führung Anderer: Unser Selbstkontakt bestimmt unsere Wahrnehmungs-, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit mit der Welt. Wir sind Resonanzräume.

Was gehört zum Selbstkontakt?

1. Physische Ebene (Körper): Hierzu zählen alle Körperempfindungen und Zustände, z. B. Müdigkeit, Anspannung, Kälte, Wärme, Kribbeln, Taubheit …
2. Emotionale Ebene (Gefühle, Herz): Dazu zählen Primäremotionen wie Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel, Überraschung und auch Sekundäremotionen (eine Kombination aus mehreren Primäremotionen, siehe weiterführend hierzu)
3. Mentale Ebene (Verstand, Kopf): Alle gedanklichen Vorgänge
4. Inspirative Ebene (Intuition, Seele): Kreative Ideen, Einfälle, Visionskraft, größere Perspektiven, subtilere Wahrnehmungen

Quelle: Breidenbach, Joana und Rollos, Bettina (2019) New Work needs Inner Work

(Bildquelle: Breidenbach, Joana und Rollos, Bettina (2019) New Work needs Inner Work.)

 

Auf Basis der Ebenen 1 bis 3 gelangst Du in der inspirativen Ebene in Kontakt zu dem, was in Dir und im Raum ist. „Du zapfst Deine Inspiration an“. Kennst Du diese Momente, wo die Ideen fast sichtbar durch den Raum schwirren und sich zu einer gemeinsamen Bewegung verdichten? Wo es Dir den Rücken runterrieselt, weil sich der Moment so besonders anfühlt? Weil Du eine Ahnung von einem „Neu“anfang hast? Dann ist das ein inspirativer Moment!

In unserem Beratungskollektiv HR Pioneers bauen wir die Übung mit den vier Ebenen zur Selbstwahrnehmung inzwischen zum gemeinsamen Einstieg in Meetings ein. So steigern wir das „Qualitätsniveau“ der Zusammenkunft enorm.

Übung zur Selbstwahrnehmung

Wir sind in Deutschland oftmals in einem übermäßig verkopften Modus unterwegs. Da lässt sich nicht auf Knopfdruck der Selbstkontakt in Gänze herstellen. Um sich ihm zu nähern, eignet es sich, Folgendes jeden Morgen zehn Minuten lang auszuprobieren:

Erforsche zwei Minuten lang jede Ebene mit Fragen wie „Ist mir kalt/warm? Wo kribbelt es? Was fühlt sich taub an? Welches Gefühl liegt oben auf? Was schwirrt durch meinen Kopf? Und so weiter. Wenn Du in eine andere Ebene abschweifst, nimm das wahr, und führe Dich freundlich wieder zurück. Du wirst merken, dass Du im Laufe der Zeit Übung darin bekommst, die unterschiedlichen Ebenen bewusster wahrzunehmen. Deine Antennen werden feiner werden.

Wenn Du dies ein paar Mal ausprobiert hast, sind folgende Fragen zur weiteren Reflexion sehr spannend:

  • Wie geht es mir auf den unterschiedlichen Ebenen (wichtig: nacheinander einzeln explorieren)
  • Welche Ebenen kann ich leicht erkennen, welche Ebenen vermischen sich? Wo fällt mir das Differenzieren schwer?
  • Kann ich ausschließlich wahrnehmen, ohne in Interpretation oder Wertung zu gehen?

Übrigens: Mir hat es sehr geholfen, zu erfahren, dass es auch o.k. ist, nicht(s) oder lediglich eine Art Taubheit wahrzunehmen. Auch das darf sein!

Und: Du kannst auch einfach erst einmal mit den ersten drei Ebenen starten, wenn das leichter fällt. Eine Anleitung dazu findest Du in unserem neuen Buch „Veränderung im Sinn“.

Bewusst in Resonanz gehen

Wieso ist diese Ganzheit des Spürens so wichtig? Ich bin mir sicher, dass der bisherige „Autopilot“-Modus des Führens nicht mehr ausreicht, um den neuen Anforderungen an wirksame Führung gerecht zu werden. Im Autopilot-Modus bin ich nicht frei in der Wahl meiner Reaktionen, ich wiederhole lediglich Führungsmuster. Das ist perfekt, wo Routinen gefordert sind. Aber es fällt uns auf die Füße, wo wir substanziell Neues kreieren müssen. Je bewusster ich mich selbst und auch mein Umfeld wahrnehme – also bewusst in Resonanz gehe –, desto freier bin ich in der Wahl meiner Reaktion. Das gilt für mich als Individuum und auch für uns in der gesamten Organisation oder noch weiter gefasst für das gesamte System.

Die Gretchen-Frage lautet daher: Wie stärke ich meine Resonanzfähigkeit?

Ungewohnte Ressourcen nutzen

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Von Viktor Frankl

Wenn, mit Viktor Frankl gesprochen, die Freiheit genau zwischen Reiz und Reaktion liegt, wie fülle ich den Raum dazwischen? Reicht Innehalten, also Selbstkontakt, und dann geht es im Autopilotmodus weiter?

Ungewohnte Ressourcen nutzen

(Bildquelle: Eigene Darstellung)

 

Fangen wir mit dem uns Bekannten an: Machen. „Einfach mal machen“ ist ein beliebtes Crédo von André Häusling, dem Gründer der HR Pioneers. Ins Tun zu kommen, setzt viel Energie frei – für Dich und andere. Wer macht, bekommt das Gefühl selbst am Steuer zu sitzen, selbstbestimmt zu wirken. Durch das Tun wirkst Du außerdem stark, das wiederum wirkt stark auf andere im Unternehmen, die Dir dann gerne folgen. Weil Du Sicherheit und Klarheit vermittelst. Meist basieren diese Handlungen auf rationalen Überlegungen (Verstand). Wer mag das nicht? Aber reicht das? Was ist, wenn ich trotz des Machens innerlich unsicher bin? Wie will ich eigentlich inmitten komplexer Transformationen eigentlich wissen, was genau das Richtige ist? Und sind wir nicht immer in Transformation?

Hier kommt nun Innehalten ins Spiel – das absolute Gegenteil von Machen … In all dem Trubel und Aktionismus soll ich nun innehalten, Zweifel und Fragen zulassen? Doch mal abwarten? Ein typischer „career limiting move“? Wofür ist das wichtig, wenn die Organisation das vielleicht gar nicht von mir erwartet?

Die Kraft der Emotionen

Führung in Veränderung hat immer etwas mit Unsicherheit zu tun. Wer sich selbst und sein Team in Neuland führt, fragt sich mitunter, woher die Orientierung kommt – und auch, was einen eigentlich antreibt: Freude auf Unbekanntes? Angst vor Veränderung? Skepsis? Hilflosigkeit? All das sind Emotionen. Sie bringen uns in Bewegung oder blockieren Bewegung. Genau hierhin liegt die Chance für einen echten Systemwandel (= Führungswandel). Denn: Wenn wir unsere Gefühle wahrnehmen, können wir anfangen, mit ihnen zu arbeiten – auch mit den unerwünschten, gegebenenfalls bislang unterdrückten Emotionen. Dadurch lösen sich Widerstände – in uns und im System. Und genau das möchten wir in Organisationen, die sich in der Transformation befinden, doch bewirken. Führen ist eben nicht nur vormachen und folgen lassen, sondern so viel mehr:

  • Begleiten in Unsicherheit,
  • Empathisches Zuhören,
  • Belastbare Beziehungspflege,
  • Visionen vermitteln

Christiane Windhausen und Birgit-Rita Reifferscheidt gehen in ihrem Buch „Das flüssige Ich“ noch weiter. Sie sagen „Ein angemessener Umgang mit Gefühlen wird zukünftig eine wesentliche Führungskompetenz sein“. Denn „Motivation und Begeisterung entstehen nicht im Kopf, sondern in den Gefühlen.“

 

nick page xJePstYD8Pg unsplash

(Bildquelle: Nick Page, Unsplash.com)

Körper und Gefühl in Wechselwirkung

Für Dich als Führungskraft ist es also wichtig, dass Du lernst Gefühle wahrzunehmen, hinzuspüren und die Emotionen auszudrücken. Und in diesem Sinne Vorbild zu sein. Das wiederum hat Auswirkungen auf den Körper. Nicht von ungefähr gibt es Redewendungen wie

  • Mich juckt es in den Fingern
  • Etwas brennt mir unter den Nägeln
  • Mir stellen sich die Nackenhaare auf
  • Das hat einen komischen Beigeschmack
  • Das liegt mir im Magen / bereitet mir Bauchschmerzen
  • Bis in die Haarspitzen
  • Das liegt auf der Hand

All diese Sprüche verknüpfen Gefühle mit dem Körper. Es gibt immer mehr Studien, die eindrucksvoll belegen, wie eng unsere Gedanken mit unserem Körper in Wechselwirkung stehen. In vielen Kontexten der psychotherapeutischen Begleitung oder im Coaching werden Methoden angewendet, die beides verknüpfen. Etwa Rollenspiele, Aufstellungen, Serious- Play-Übungen. Es geht bei diesen Übungen darum, neue Perspektiven zu gewinnen, etwas hervorzurufen, was vorher nicht da beziehungsweise greifbar, also nicht bewusst war. Denn Vieles ist „irgendwo“ vorhanden, aber unser Verstand kann es noch nicht in Worte fassen. Unser Körper indes war schon immer da, also sollten wir ihn auch wieder in Ganzheit integrieren. Er gibt uns gemeinsam mit unserem Verstand und dem Innehalten Orientierung. Wir müssen nur lernen, ihm zu vertrauen.


Wir müssen Gefühle zulassen, bevor wir sie verändern können

Noch einmal zurück zu dem Buch „Das flüssige Ich“. Hierin führen die Autorinnen einen weiteren wichtigen Aspekt auf, weshalb wir unser Gefühlserleben integrieren sollten. Normalerweise dauert ein Gefühl nicht länger als ein paar Sekunden. Wir nehmen zum Beispiel Schmerz wahr, indem wir weinen. Lassen wir das nicht zu, unterdrücken wir das Gefühl und erstarren darin. Wir können es nicht verändern. Damit wir das Gefühl wahrnehmen können, müssen wir es zulassen und in den Austausch mit anderen bringen. Erst dann geht es in die Veränderung.

Einen praktischen Exkurs zum Thema „Zukunft als Ressource“ kannst Du hier herunterladen.

Neue Wege für Inspiration

Verstand, Gefühle und den Körper in das Führungsverhalten zu integrieren, ergibt Sinn, wie wir gesehen haben. Aber welche Rolle spielt dabei Intuition?
Intuition lässt sich nicht mit dem analytischen Verstand erfassen, der es gewohnt ist vielschichtige Sachverhalte in Einzelteile zu zerlegen – was im geschäftlichen Kontext grundsätzlich erforderlich ist. Es geht vielmehr um das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, Erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs“ oder auch um „eine Eingebung, ein (plötzliches) ahnendes Erfassen“, wie es der Duden schreibt. Warum ist dies für Führung wichtig?
Der „Nutzen“ von Intuition für das System liegt in der Komplexität der Transformation. Oft können wir mit unserem Verstand nicht mehr den „richtigen“ Weg erkennen. Wir brauchen neue Wege – und unsere Intuition hilft, diese zu finden: Durch das vage Gefühl, dass ein bestimmter Weg, eine Idee, eine Richtung stimmig ist. Ohne es per Ratio erklären zu können. Bettina Rollow und Joana Breidenbach bringen das in ihrem Buch „New Work needs Inner Work auf den Punkt „Kreativität ist dabei weit mehr als nur ein intellektueller Vorgang, sondern sie entsteht in einem größeren inspirativen Raum“ (Seite 79). (Eine Methode, um dies praktisch zu erforschen, bietet Otto Scharmer mit seiner Theory U.)

 

vitamina poleznova gdMRXiTVMLI unsplash

(Bildquelle: Vitamina Poleznova, Pexels.com)

Bearbeitung von Spannungen des Systems

Auf Intuition zu setzen, ist auch dann sinnvoll, wenn eventuell vorhandene Spannungen des Systems – also des Teams oder der Organisation – zu bearbeiten sind. Ziel sollte dabei sein, gemeinsam Inspiration für neue Wege zu schöpfen. Das kannst Du nur, indem Du zum einen Eure Team- und Systemdynamiken angehst und zum anderen, indem Du Deine Intuition beziehungsweise intuitive Intelligenz anzapfst. Frei nach Einstein lassen „sich Probleme niemals mit der Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wir brauchen Werkzeuge, die es uns ermöglichen, kreativ zu werden.

„Stage IV“ Leaders hold the conviction that there is an underlying intelligence in the universe that is capable of guiding and preparing us for the future we must create. They combine their cognitive understanding of the world with a strong inner knowledge of the hidden potentials lying dormant in the universe.
J. Jaworski

Wichtig sind Mut sowie Begleitung in einem geschützten Raum

Fazit: Wenn wir über Führung als Resonanz sprechen, dann rückt dies unweigerlich ungewohnte Ressourcen in den Blick. Mit unserer Intuition, unserem Körperempfinden und Gefühlen haben wir ideales Rüstzeug, um durch turbulente Zeiten zu navigieren. Lass uns die vier besprochenen Dimensionen als Chance betrachten. Sie sind neben unserem Verstand eine wichtige Ressource; wir finden Unterstützung im Körper, den Gefühlen und unseren Beziehungen sowie in unserer Intuition.

Dies anzuerkennen ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn mit Einsicht allein haben sich Verhaltensmuster noch nie geändert, und die Schamgrenze ist schnell erreicht. Es braucht vor allem Mut und einen geschützten Raum, um sich auszuprobieren. Sowie andere Menschen, die einen mit Wohlwollen begleiten und dabei unterstützen, sich auszuprobieren. Wie wichtig beides ist, merken wir regelmäßig in unseren Weiterbildungsprogrammen, die diesen schützenden Raum bieten.

Dieser Beitrag ist Teil der Führungsthesen von Marcus Minzlaff und Esther Römer. Unsere erste These „Haltung entscheidet – nicht“ findest Du hier. Und hier findest Du unsere dritte These „Führung ist die Befähigung eines Systems“.


Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * markiert.

Formular zurücksetzenBeitragskommentare