Die Spinne im Orbit

Was haben Spinnennetze und Netzwerkorganisationen gemein?

Spinnennetz
Lesedauer 6 Minuten

Esther war auf Kulturtrip und hat mal eben diese Sache mit der Netzwerkorganisation und den Menschen verstanden. Vom Spinnennetz zum Pfirsich – in einem Familienausflug.

Es ist ein sonniger Samstagmorgen. Ich könnte gechillt in einer Hängematte liegen. Stattdessen betrete ich zitternd ein gigantisch großes Spinnennetz: Die Kunstinstallation von Tomás Saraceno – in orbit – hat meinen Mann und mich nach Düsseldorf gelockt. Vor einer Sekunde stand ich noch freudig in einem unpassenden Arbeitsanzug und etwas steifen Arbeitsschuhen, mit denen wir ausgerüstet wurden, vor dem Eingang und dachte, ich laufe locker durch dieses Drahtnetz.

Aber weit gefehlt!

Panik, Mut und Ankommen

Ein Schritt in dieses filigrane und gleichzeitig starke Netz belehrt mich eines Besseren. Zitternd klettere ich rückwärts hinunter in die wabernde Struktur und muss mich erst einmal setzen. Mich, die immer alles Neue ausprobieren will, überkommt Panik, und ich habe das Gefühl, mich keinen Millimeter mehr bewegen zu können. 20 Meter über dem Boden kann das schon mal vorkommen.

Mein Kopf weiß, mir kann nichts passieren, doch meine Gefühle laufen Amok. Ein Glück: Mein Mann, der etwas entspannter herumturnt, nimmt meine Hand, hilft mir auf und begleitet mich weitere Meter in das gigantische Netz hinein bis hinaus zum Bereich, der mir einen freien Blick über 20 Meter nach unten gewährt.

Bloß nicht nach unten schauen, Esther! Ah, da liegen ein paar Kissen. Das ist mein nächstes Ziel, dort lasse ich mich nieder. Hier komme ich an und beginne, die Atmosphäre um mich herum zu beobachten.

Es gibt eine Frau, der es genauso wie mir zu gehen scheint. Sie schwankt, sie setzt sich hin, macht sich wieder auf, wird mutiger. Mein Mann klettert weiter nach oben und entdeckt Kugeln und noch wackligere Bereiche am Rand. Da springen tatsächlich ein paar Kinder durchs Netz, nein, sie rennen. Wie machen sie das? Ich glaube, im Gegensatz zu mir denken sie einfach nicht nach. Manche laufen alleine, manche in Gruppen. Manche machen Pausen, wie ich, andere erkunden jeden Winkel. Wenn sie an mir vorbeikommen, schwingt es kräftig.

Jeder Mensch reagiert anders – ob Kunst oder Organisation

Während ich dort mitten im Netz sitze, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: So fühlt es sich an, in einem Netzwerk zu arbeiten.

Und so unterschiedlich geht jeder damit um.

Ich, die ich dachte, ich sei mutig, sitze verängstigt in der Mitte des Netzes und muss erst einmal zu mir kommen und mich an das Gefühl der Bewegung gewöhnen. Ankommen.

Wenn wir anfangen, Organisationen umzugestalten, erzeugt das nicht bei allen Freude und Losrennen. Es bringt Angst und Unsicherheit und vielleicht auch Starre mit sich. Es gibt Kollegen, die können sich erst dann weiterbewegen und auf die neue Situation einlassen, wenn andere (Mutigere oder Erfahrenere) sie an die Hand nehmen und begleiten, ihnen Sicherheit geben. Und jede, die in diesem System losgeht und sich verändert, bewirkt auch wieder Veränderung bei den anderen, erzeugt vielleicht Unsicherheit oder Unklarheit (Schwingung).

Je weiter sich Mitarbeitende an den Rand des Systems, also des Netzwerks begeben, desto mehr entfernen sie sich. Sie gehen größere Risiken ein, manchmal sind sie alleine. Und überall da, wo in diesem System mehrere zusammen sind, geben sie einander Halt.

Was heißt das?

Wir brauchen überall in diesem Netz kleinere Zellen, die gut miteinander wirken können. Wir benötigen aber auch die Springer, die sich von Zelle zu Zelle bewegen und für Austausch sorgen. Sonst kann es schnell wieder zu einem Silo-Verhalten kommen. Mir fällt ebenso auf, dass keine „weiter oben“ ist als die andere, es gibt nur unterschiedliche Aufgaben. Und die Erfahrenen begleiten die Neulinge, bis diese selbst zu Erfahrenen werden und unter Umständen wieder eine neue Zelle gründen.

Der Weg in die Netzwerkorganisation ist wackelig

Wie gehe ich nun ganz praktisch mit den Gedanken zu einer Netzwerkorganisation oder – in den Worten von Laloux – einer evolutionären Organisation um?

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die bislang gewöhnt waren, nach command and control zu arbeiten, werden nicht von einem Tag auf den nächsten ihr Verhalten und ihre Muster umstellen können. Sie sind durch jahrelanges Arbeiten in alten Strukturen verängstigt. Sie müssen (wieder) laufen lernen.

Selbstführung ist dabei ein wichtiger Bestandteil, der total anspruchsvoll ist. Auf einmal gilt es wieder, Verantwortung zu übernehmen und für sich einzustehen. Verstecken hinter der Chefin geht nicht mehr. Dann werden Mitarbeiter zu Mitarbeitenden. Teams bilden sich nun z. B. nach Kompetenzfeldern, ehemalige Führungskräfte werden zu Product Ownern, gehen ins Umsetzungsteam oder wirken in einer neuen Funktion als Agile Master. Im Gegensatz zu den Mitarbeitern müssen sie lernen, Verantwortung und Entscheidungskompetenz an das Team abzugeben.

Jede(r) Einzelne nimmt Einfluss auf das Ganze

Im Bild des Spinnennetzes gesprochen sind alle Mitwirkenden innerhalb und außerhalb eines Teams mit Fäden verbunden. Jede neue Rolle in dem Netz besitzt gewisse Führungsverantwortung und ist gleichermaßen für den Erfolg mit verantwortlich.

Der Product Owner hält die fachlichen Fäden zusammen und vertritt die Wünsche und Anforderungen des Kunden. Er pflegt das Backlog und priorisiert dieses den Anforderungen gemäß.

Der Agile Master begleitet sein Team auf dem Weg durch das Netz. Er unterstützt und beschützt es und fördert die Selbstorganisation. Er beseitigt Hindernisse und macht den Regungslosen im Netz Mut. Das Team selbst arbeitet autark und ist für die Zielerreichung selbst verantwortlich. Es leistet einen eigenverantwortlichen Beitrag im großen Spinnennetz der Organisation.

Die vegane Variante: der Pfirsich

Und wie sieht so ein Spinnennetz jetzt in der Praxis aus? Nun, in der Grafik siehst Du eine schematische Darstellung einer Netzwerkorganisation:

Organisationsmodell_Peach

Dieser „Pfirsich“ ist ein Beispiel für die Endausbaustufe in der organisationalen Entwicklung hin zu mehr Agilität. Auf diesem Weg erleben wir oft eine strukturelle Veränderung von einer klassischen Aufbauorganisation über eine funktionale oder produktorientierte Matrix hin zu eben jener Netzwerkorganisation.

Wie genau diese aussieht und welches Modell gewählt wird, ist aber durchaus unterschiedlich und längst nicht auf alle Organisationen eins zu eins übertragbar.

Denn bedenkt man die Unterschiedlichkeit in Unternehmen sowie die Komplexität auf dem Markt und die Verschiedenheit der KundInnen und ihrer Bedürfnisse, wäre es obsolet, eine Struktur über alle Organisationen, die sich in Richtung Agilität bewegen, zu stülpen. „One size fits all“ gibt es nicht mehr. Viel wichtiger ist es doch, ein wie auch immer geartetes Netz zu gestalten, in dem die Menschen ihre Arbeit – je nach Aufgabe und Kundenwusch – fluide und flexibel gestalten können. In dieser Welt sind die Menschen in der Lage, eine jeweilige Struktur anzunehmen, die es ermöglicht, sich bestmöglich an die Bedarfe der Umwelt anpassen und auf sie reagieren zu können.

Mensch und Organisation im Wandel brauchen Zeit

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, der vor allem an den Grundfesten und Werten der Menschen rüttelt. Genau wie ich mich in dem wabernden Spinnennetz der Kunstinstallation von Tomás Saraceno zurechtfinden muss. Wie ich erst während des Betretens gemerkt habe, was dieses Netz eigentlich mit mir macht und welche Ängste es freisetzt. Wie ich auf Hilfe und Austausch mit anderen, Erfahrenen oder Mutigeren angewiesen bin und wie ich einige Pausen benötige, um durchzuschnaufen und zu reflektieren. Genau so geht es auch den Menschen in einer Organisation, die sich von Grund auf verändern möchte.

Die Menschen sind die Organisation. Du bist ein Teil derselben. Du brauchst Zeit!

Zeit, um den Wandel verstehen und akzeptieren zu können. Zeit, Deinen neuen Platz zu finden. Und wenn Du von den Mitwirkenden in der Organisation mehr Verantwortung erwartest, musst Du Dir und ihnen die Möglichkeit und die Zeit einräumen, neuen Sinn in Deiner und ihrer (agilen) Arbeit zu finden. Erst dann kannst Du erwarten, dass sie diesen Sinn, die Kultur und das Ansehen der Organisation in ihrer Arbeit berücksichtigen und in die Welt hinaustragen.

Alles entwickelt sich weiter

Für mich ist das Spinnennetz ein faszinierendes Bild einer evolutionären Organisation, also einer Organisation, die ständig wächst und sich verändert. Genauso wie sich das Spinnennetz ständig verändert, ist auch hier alles fließend. Ich bin wirklich kein Spinnenfan, aber dieser Ausflug ins Land der Achtbeiner hat sich absolut gelohnt. Probiere es selbst aus! Eines verspreche ich Dir: Das Erlebnis wird Dich milder werden lassen – gegenüber Dir selbst und Deinen Mit-Arbeitenden.

Wenn Dich das Thema Organisationsstrukturen weitergehend interessiert, empfehlen wir Dir unser Training Agile Organisationsstrukturen, in dem Du mehr lernen und im Anschluss das Gelernte in Deine Unternehmenspraxis übertragen kannst. Oder bist Du in einer C-Level-Funktion unterwegs? Dann hast Du auf unserem Agile Executive Summit die Gelegenheit, zu diesen Fragestellungen Klarheit und Expertise zu gewinnen. Der nächste Termin ist am 12. November 2019.

InspiratorInnen zum Beitrag sind

  • Frédéric Laloux, Reinventing Organizations
  • Malte Foegen und Christian Kaczmarek, Organisationen in einer digitalen Zeit
  • André Häusling (Hrsg): Agile Organisationen und natürlich
  • Der Künstler Tomas Saraceno

Bild von pieonane auf Pixabay

AutorInnen dieses Beitrags
Esther Römer
Ideengestalterin

Seit Mai 2012 ist sie für den Aufbau und die Weiterentwicklung des Marketingbereichs von HR Pioneers verantwortlich und begeistert sich für eine wertebasierte Entwicklung von HR Pioneers.


1 Kommentar

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