Retrospektive – warum das Rad neu erfinden?

So gelingt eine gute Moderation

Menschen beschreiben Post-Its
Lesedauer 4 Minuten

Als ich damals die Chance hatte, von der klassischen Personal- und Organisationsentwicklung in die Team- und Organisationsentwicklung eines ziemlich agilen Unternehmens zu wechseln, hatte ich mir wer weiß was unter einer Retrospektive vorgestellt. Hier wurde ein Riesen-Bohei darum gemacht, als das Führungsinstrument der Agile Masterin Nr. 1. Sie agiere in der Retrospektive als Facilitator für das Team.

Mir wurden Bücher in die Hand gedrückt, die sich allein um das Thema „Agile Retrospektiven“ drehten, und Links zu Internetseiten weitergeleitet, auf denen man sich Retrospektiven zusammenstellen konnte. Last but not least wurde auch noch einmal betont, dass das der Punkt sei, der am schlechtesten laufe im Unternehmen, und man sich hier von mir entsprechende Qualitätsverbesserungen erhoffe. Damit war ich erstmal gebührend eingeschüchtert.

Am Ende ein Workshop

Dann nahm ich an den ersten Retrospektiven meiner Kollegen teil, las die Bücher und Internetseiten und mir ging langsam auf, dass sich die agile Community hier das Rad noch einmal neu erfunden hat: So ist doch die Retrospektive nichts anderes als der gute alte Workshop mit dem Thema „Wie können wir unsere Zusammenarbeit im Team verbessern?“. Und mit Facilitator ist die Rolle des Moderators gemeint (hier steige ich bei Bedarf gerne in Grundsatzdiskussionen ein).

Und wenn ich jetzt den Agile Mastern da draußen einen Tipp geben darf, mit dem Wissen und der Erfahrung aus beiden Welten: Nutzt lieber die Lehren des Godfathers of Moderation, Josef W. Seifert, und die Werke von Klebert/Schrader/Straub, als das immer wieder in der agilen Welt zitierte zusammengekürzte Vorgehen nach Derby und Larsen.

Vielleicht erscheinen die Unterschiede nur marginal, aber aus meiner Sicht bietet der klassische Moderationszyklus eine leicht bessere Transparenz für einen selbst und die Teams. Und die Erfolgskriterien und Lehren von Seifert und Co. kann ich zu 100 Prozent unterschreiben, während ich in den Retrospektive-Büchern ein paar Kleinigkeiten gefunden habe, die ich aus meiner vielfältigen Erfahrung als Moderatorin heraus fragwürdig finde.

So besteht ein runder Workshop, also auch eine Retrospektive, aus folgenden generischen Phasen:

  • Einsteigen (begrüßen, abholen, anwärmen, Kontakt herstellen, auf das Thema hinführen, Ziel, Agenda und Organisatorisches klären, gegebenenfalls Regeln aufstellen)
  • Sammeln und Gruppieren (Fragestellung formulieren, Gedanken der Teilnehmer sammeln und zu thematischen Gruppen ordnen)
  • Auswählen (wenn man mehr Themen gesammelt hat, als man in der Timebox analysieren kann, muss man priorisieren)
  • Gegebenenfalls für jedes Thema wiederholend – je nach Zeitrestriktion:
    • Bearbeiten (Thema analysieren, Hintergründe, Einflüsse, Zielvorstellungen eruieren und Lösungsideen ungefiltert sammeln)
    • Maßnahmen planen (konkrete Maßnahmen auswählen und die Umsetzung vereinbaren: Wer tut was bis wann und wann prüfen wir die Umsetzung?)
  • Abschließen (Prozess Revue passieren lassen, Feedback einholen, Gedanken und Befindlichkeiten abholen, gegebenenfalls Ausblick geben, verabschieden)

Für jede der Phasen gibt es ein paar sehr bewährte Standard-Methoden, die fast auf jede Fragestellung anwendbar sind. Und damit das Ganze funktioniert, nimmt der Moderator eine inhaltlich absolut neutrale Rolle ein, führt anhand von Fragen, Methoden, Visualisierung der Diskussion und Strukturierung. Damit ist man theoretisch super gerüstet. Und wer mal Abwechslung sucht: Die agile Community ist enorm kreativ! Hier sind viele spannende, bunte Instrumente für die Retrospektive entwickelt worden, die im Netz frei verfügbar nachzulesen sind.

Mit dem Team in die Tiefe gehen

Warum erreichen die Retrospektiven trotzdem häufig nicht die nötige Tiefe für die Weiterentwicklung des Teams? Standardvorgehen und spaßige Methoden sind kein Erfolgsgarant und überhaupt geht es auch um etwas ganz anderes. Denn wir Agile Master/Moderatoren sind keine Alleinunterhalter, sondern dafür da, die Teamperformance zu steigern.

Teams sind keine mechanischen Gebilde und hier muss ich auch dem sehr geschätzten Klaus Leopold widersprechen: Es geht nicht immer nur um Fakten in der Retrospektive. Allzu häufig sind es ganz menschliche oder zwischenmenschliche Themen, die dazu führen, dass ein Team nicht so gut performed, wie es könnte, oder die Zusammenarbeit von Teams nicht läuft – ganz zu schweigen von den übergreifenden Dimensionen unseres Trafo-Modells, Strategie und Kultur, Struktur und Führung, Prozesse und (HR-)Instrumente.

Hier ist Hintergrundwissen zur „Funktionsweise“ von Menschen, Teams und Organisationen erforderlich. So verbergen sich hinter dem Baukasten der Moderationsmethode u.a. die Lehren der Themenzentrierten Interaktion (TZI) von Ruth Cohn, mit denen sich ein Moderator vertraut machen sollte.

Kenntnisse über Bedürfnisse von Menschen und den Zusammenhang mit Kommunikation, Konfliktentstehung und Konfliktmoderation, die Psychologie der Gruppe (Team ist zumindest zu meiner Zeit noch kein Begriff in der Psychologie gewesen), Change Management und die Ausführungen der positiven Psychologie/Lösungsfokussierung sind sehr hilfreich, um zu erkennen, was gerade den Sand ins Getriebe streut.

Die Form soll den Zielen folgen, nicht umgekehrt

Wir müssen die Teams, die wir begleiten, gut beobachten und erspüren, wo in der letzten Iteration die Hemmschuhe waren, um das passende Vorgehen vorzubereiten. So kann es von Fall zu Fall sinnvoll sein, den Pfad des Workshops zu verlassen und die Retro-Zeit z.B. für ein besseres gegenseitiges Kennenlernen im Team und für einen Vertrauensaufbau zu nutzen, Rollen- oder Konfliktklärungen anzuleiten oder Wertschätzungsformate zu nutzen. Die Form soll den Zielen und Inhalten folgen und nicht umgekehrt.

Insofern verstehe ich heute sehr gut, warum die Retro der „Painpoint“ nicht nur in meinem damaligen Unternehmen, sondern auch in vielen anderen Unternehmen, die ich seither kennengelernt habe, war und ist: Eine gute Retrospektive braucht einen Moderator mit einem breiten Wissens- und Methoden-Knowhow über und für Menschen, Teams und Organisationen. Davon finden sich in der IT, wo Agilität am verbreitetsten ist, naturgemäß wenige. Kleiner Tipp: Sucht mal in Eurer HR-Abteilung.

 

Quellen:

Josef W. Seifert „30 Minuten für professionelles Moderieren“

Josef W. Seifert „Visualisieren Präsentieren Moderieren“

Karin Klebert, Einhard Schrader, Walter G. Straub „KurzModeration“

Karin Klebert, Einhard Schrader, Walter G. Straub „ModerationsMethode: Das Standardwerk“

https://retromat.org/de/?id=18-7-37-49-53

http://tastycupcakes.org

 

Foto: Unsplash.de

AutorInnen dieses Beitrags
Jennifer Rolle
Management Consultant

Seit 2016 verstärkt Jenni das HR Pioneers Team und bringt ihre Expertise vornehmlich in der Begleitung von agilen Transformationen, Agile Leadership, Begleitung von agilen Teams und Schulung verschiedener agiler Rollen ein.


3 Kommentare

  1. Hallo Frau Rolle,
    in den meisten Punkten stimme ich ihnen zu.
    Witzig ist, dass sie sich die evtl. nicht ganz ernst gemeinte Frage „Retrospektive – warum das Rad neu erfinden?“, in ihrem anderen Artikel Bullshit-Bingo, selbst geben. Es soll „einem helfen, sich nach völlig anderen Werten und Prinzipien zu organisieren“. Das trifft meiner Meinung erst recht auf die Retrospektive zu, steht doch seit langem endlich mal wieder der Mensch als individuum im Vordergrund!
    Eine Frage hätte ich noch, wenn Sie von Agile Mastern sprechen. Meinen sie die Rolle des Scrum Masters, oder habe ich da eine Evolutionsstufe verpasst?
    Viele Grüße und danke für die wertreichen Beiträge,
    Daniel Dürselen

  2. Hallo Herr Dürselen,
    ich habe mich sehr über Ihr Feedback gefreut! Vielen Dank dafür. Ja, Schreiben ist ein kreativer Prozess, der sich nur bedingt steuern lässt. Und so hatte ich auf einmal zwei Artikel, die sich oberflächlich widersprochen haben 🙂 in Summe aber ganz gut ergänzen.
    Tatsächlich sprechen wir immer eher von Agile Mastern anstatt von Scrum Mastern, um deutlich zu machen, dass es ja nicht nur um Scrum geht. Scrum ist nur eines von vielen Vorgehensmodellen und der Agile Master sollte eine große Bandbreite von Handwerkszeug auch aus anderen Konzepten (Kanban, XP, Continuous Integration…) zur Verfügung haben, um das Team situationsgerecht unterstützen zu können. Aber, ja, wir meinen mit „Agile Master“ die gleiche Ebene der Führungsrolle, wie beim „Scrum Master“.
    Viele Grüße
    Jennifer Rolle

  3. Hallo Jennifer
    Auch wenn dein Beitrag vor 2 Jahren publiziert wurde hat er nichts von Aktualität eingebüsst. Du sprichst mir voll aus dem Herzen. Seit mehr als 15 Jahren bin ich als Coach und Organisationsberater, meine Base ist die Arbeits- & Organisationspsychologie – unterwegs. Vor 5 Jahren in die Agile Welt eingetaucht und dann hieß es, ich solle mich als Certified Scrum Master ausbilden um Teams in der agilen Arbeitsweise zu begleiten und zu unterstützen. Gelernt hab ich das Framework mit all seinen Begrifflichkeiten und Terminologien, jedoch nichts über Führung & Kommunikation, Team und Zusammenarbeit, Konflikt und Konfliktmoderation etc. pp. Heute ist die Ausbildung viel umfangreicher geworden…Folglich bin ich wieder zu meinen Wurzeln zurück und fühle mich sehr wohl dabei. Danke für deinen Beitrag. Da stimme ich dir voll zu…
    Mit liebem Gruss vom Moreno della Picca

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